Donnerstag, 29. Mai 2025

Der Mai im Zeitraffer: Ein Wechselbad der Gefühle

Der Mai ist wie im Flug vergangen, und er war turbulent, ein wahres Wechselbad von Gefühlen. Zu Beginn war da noch die Trauer um Papst Franziskus. Und dann die Tage des Vorkonklaves, die ich vom Presseamt des Vatikans aus verfolgte. Neun Tage lang Trauergottesdienste in St. Peter. Parallel dazu herrschte große Ratlosigkeit: Welcher der vielen, zu einem guten Teil völlig unbekannten Kardinäle könnte ihm nachfolgen? Jeden Tag wuchs auch unter den langjährigen Vatikanbeobachtern die Überzeugung, das Konklave würde mindestens drei Tage, wenn nicht sogar länger, dauern. Am Mittwochabend verfolgte ich mit Hunderten von Medienschaffenden den Einzug der Kardinäle in die Sixtinische Kapelle via Livestream und harrte bis zum späten Abend auf dem überfüllten Petersplatz ratlos aus: Der schwarze Rauch ließ auf sich warten…

Für den Donnerstag plante ich, ein wenig auszuspannen. Zu Mittag war ich im Ukrainischen Kolleg am Gianicolo zum Mittagessen eingeladen. Vom Dach des Kollegs hat man einen herrlichen Blick zum Petersdom. Von weitem sah ich zu meinem Erstaunen schon um 12 Uhr den zweiten schwarzen Rauch aufsteigen.

Der Sog des Moments: Als der Petersplatz rief

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, an diesem Abend nicht mehr zum Petersplatz zu gehen. Nach der zermürbenden Wartezeit am Vortag, als der ersehnte schwarze Rauch einfach nicht aufsteigen wollte, hielt sich meine Motivation wirklich in Grenzen. Die allseits zitierten Experten, die den Ausgang des Konklaves frühestens für Freitagabend, wenn nicht sogar Samstag, voraussagten, dämpften meine Hoffnung zusätzlich. Dennoch, als ich bemerkte, wie immer mehr Menschen auf den diesmal geöffneten Petersplatz strömten, ließ ich mich doch mitreißen. Eine Art "auf Nummer sicher"-Gedanke trieb mich an. Wer weiß schon, was kommt? Die Menge wuchs schnell, und ehe ich mich versah, wurde ich in einem unaufhaltsamen Strom immer näher an die Loggia der Petersbasilika gedrängt. Mein Blick war auf den erstaunlich unscheinbaren Schornstein gerichtet. Das alles, biblisch gesprochen, "gegen alle Hoffnung".

Der entscheidende Augenblick: Ein Meer der Freude

Dann, plötzlich die Rufe um mich herum: "È bianca! È bianca!" – weißer Rauch! Ich blickte hinauf, und es war unmissverständlich. Gleichzeitig setzten die Glocken ein, dieses unverkennbare Signal: Wir haben einen Papst! Dieser Augenblick ist schwer zu beschreiben. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Instinktiv griff ich zum Handy, um diesen historischen Moment zumindest fragmentarisch einzufangen. Gleichzeitig beschlich mich das Gefühl: „Nein, jetzt ist zuerst die Zeit, für den Papst zu beten, wie immer er heißen mag, aber auch für die ganze Kirche.“ Das gelang in dieser emotionalen Ausnahmesituation ehrlicherweise nur leidlich. Die Begeisterung der Menschen um mich herum war schlichtweg überwältigend. Hinter mir sangen Seminaristen das "Regina Caeli", das Halleluja schallte über den Platz. Es war das Volk Gottes, das sich versammelt hatte, um seinen neuen Hirten zu begrüßen.

In diesem Moment entstand eine eigentümliche Dynamik. Fremde sprachen einander an, als wären sie längst Vertraute. Namen wurden ausgetauscht, sogar Handynummern; man fühlte sich in dieser gemeinsamen Erfahrung auf dem Petersplatz wie in einer großen Familie vereint. Eine Ordensfrau aus Korea neben mir brachte es auf den Punkt: "Ist das nicht schön, katholisch zu sein?" Meine prompte Zustimmung kam von Herzen: Ja, tatsächlich es ist einfach schön, katholisch zu sein, Teil dieser weltweiten Gemeinschaft von Menschen, die versuchen, dem jüdischen Zimmermann aus Nazareth, dem Auferstandenen, nachzufolgen, so unvollkommen das sein und bleiben mag.

Die Überraschung des Namens: Eine persönliche Verbindung

Schließlich die Verkündigung des Namens: Robert Francis! Sofort erkannte ich: Kardinal Prevost! Ausgerechnet er, den ich in den vergangenen Tagen in Rom während der Trauergottesdienste für Papst Franziskus immer wieder bemerkt hatte. Und da war diese Erinnerung an ein "Side Event" während der ersten Sitzung der Synode 2023. Er hatte sich ungezwungen zu unserer kleinen Gruppe an den Tisch gesetzt, höflich zugehört und dann nach unserer Außenperspektive gefragt. Seine Aufmerksamkeit, sein Humor, seine unkomplizierte Art im Gespräch – das war mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Der unaufdringliche, aber interessierte Augenkontakt, den er die ganze Zeit hielt. Immer wieder ertappte ich mich in diesen Tagen vor der Wahl beim Gedanken, dass er ein würdiger Nachfolger für Franziskus wäre. Im Pressesaal wurde mir allerdings immer entgegengehalten, dass seine US-amerikanische Herkunft ein schier unüberwindliches Hindernis sei. „Un americano non fa il papa“ – „Ein Amerikaner wird nicht Papst“, so das ungeschriebene Gesetz der oft langjährigen Vatikanexperten.

Meine Einschätzung erhielt erst Auftrieb, als mir unser Emeritus, kurz vor seiner Rückreise nach Wien, bestätigte, dass Prevost auch sein bevorzugter Kandidat sei. Als Papst Leo dann auf der Loggia erschien, empfand ich vor allem Erleichterung und Freude. Seine ersten Worte – "Der Friede des Auferstandenen sei mit euch allen" – berührten mich tief. Neben mir liefen einem älteren Priester die Tränen über die Wangen. Die wiederholte Bezugnahme auf Papst Franziskus und dessen zentrale Anliegen wie Frieden, Gerechtigkeit, Armut und die bedingungslose Liebe Gottes, aber auch die Mahnung zur Nächstenliebe und zum gemeinsamen Weg, untermauert durch das Zitat seines Ordensvaters Augustinus: „Mit euch bin ich Christ, für euch bin ich Bischof“ – all diese einfachen und klaren Worte fanden unmittelbare Resonanz auf dem Platz. Der spontane Applaus, der Jubel der Menge waren Ausdruck dieses Gleichklangs. In diesem Augenblick repräsentierten diese Hunderttausenden die ganze Bandbreite der katholischen Kirche und gleichzeitig ihre Einheit. Man bekam eine Ahnung davon, dass die Rede vom „Volk Gottes“ und seinem „Glaubenssinn“ keine bloßen theologischen Fachtermini sind.

Ein bleibender Eindruck

Überraschenderweise verlief der Abzug vom Platz trotz der enormen Menschenmenge friedlich und geordnet. Es gab trotz der mühsam engen Schleuse und den vielen Absperrungen keinen Moment der Beklemmung, sondern vielmehr eine spürbare Erleichterung und eine anhaltende Freude über dieses überraschende Ereignis. "Wie schön ist es katholisch zu sein" – Dieser Gedanke begleitete mich den ganzen Abend und erfüllt mich noch heute Morgen. Leo XIV. – an diesen Namen werden wir uns sehr schnell gewöhnen, sosehr wir Franziskus noch in unseren Ohren und Herzen haben. Aber ich hege die Hoffnung, dass das von Franziskus vorbereitete Fundament nun auf noch konkretere Weise weitergetragen wird

Solidarität mit Gaza ist im Interesse von ganz Israel

Der Nahost-Konflikt, seit jeher von einer kaum zu durchdringenden Komplexität geprägt, hat mit dem jüngsten Gazakrieg eine neue, erschütternde Dimension erreicht. In dieser zugespitzten Lage ist es unerlässlich, über die reine Parteinahme hinauszublicken und eine differenzierte Perspektive einzunehmen, die sowohl die tiefe Verbundenheit mit Israel als auch die moralische Verantwortung für alle Betroffenen berücksichtigt.

Es ist bekannt, dass das tiefe Mitgefühl von Papst Franziskus für die Menschen im Gazastreifen von einigen Theologen und selbst vom römischen Oberrabbiner Roberto de Segni kritisch beäugt und als problematisch für die theologischen und interreligiösen Beziehungen zum Judentum empfunden wurde. Der Vorwurf der Parteilichkeit in einem derart sensiblen Konflikt ist verständlich, doch er verkennt die universelle Dimension menschlichen Leidens, die über politische und religiöse Gräben hinweg Mitgefühl erfordert.

Unsere ehrliche Verbundenheit und Freundschaft mit Israel – dem Volk, dem Land, mit „Kol Jisrael“, dem vielgestaltigen Judentum weltweit – steht außer Frage. Für Christen ist die Existenz und das Erbe Israels von fundamentaler Bedeutung; es ist Fundament unseres Selbstverständnisses als Christen: Ohne Israel gibt es uns Christen nicht. Diese tiefe spirituelle und historische Nähe ist ein unerschütterliches Fundament. Jeder Form von Antijudaismus, Antisemitismus, jede Idee von Substitutionstheologie oder Judenmission sind verwerflich und richten sich gegen Jesus und das Evangelium.

Doch gerade aus dieser tiefen Verbundenheit erwächst die Notwendigkeit, eine kritische Stimme zu erheben, wenn Handlungen erfolgen, die den eigenen Werten und langfristigen Interessen Israels zuwiderlaufen. Es muss gerade auch im ureigensten Interesse Israels liegen, keinen unmenschlichen, völkerrechtlich verwerflichen Vernichtungskrieg gegen die arabische Zivilbevölkerung zu führen. Ein solches Vorgehen untergräbt nicht nur die moralische Autorität Israels auf der Weltbühne, sondern säht auch den Samen für zukünftige Konflikte und destabilisiert die Region auf unvorhersehbare Weise.

Die Kritik am Vorgehen der aktuellen israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu wird nicht nur international, sondern auch innerhalb Israels immer lauter. Prominente israelische Stimmen, darunter ehemalige Geheimdienstchefs, Oppositionspolitiker wie Yair Lapid, und sogar Familien der Geiseln, haben die Regierung scharf kritisiert. Sie werfen Netanjahu vor, strategische Ziele zugunsten des politischen Überlebens seiner Regierung zu opfern, die Geiseln zu vernachlässigen und keine klare Vision für den "Tag danach" in Gaza zu haben. Viele sehen in der Fortsetzung des Krieges eine Ablenkung von inneren Problemen und eine Manipulation für persönliche politische Zwecke. Es wird argumentiert, dass die Regierung die Katastrophe des 7. Oktober nicht nur nicht verhindern konnte, sondern auch für das Ausbleiben einer klaren Strategie und die Eskalation der humanitären Krise verantwortlich ist.

Es ist im Interesse Israels, das Regime von Netanjahu kritisch zu hinterfragen und zur Rechenschaft zu ziehen – letztlich auch dafür, dass das verdammenswerte Massaker des 7. Oktober überhaupt möglich war. Die Forderung nach einer schonungslosen Aufarbeitung und einer Abkehr von einer Politik, die auf militärische Übermacht statt auf nachhaltige Lösungen setzt, ist keine Schwächung Israels, sondern eine Stärkung seiner langfristigen Sicherheit und moralischen Integrität. Nur ein Israel, das seine Handlungen kritisch reflektiert und sich den Prinzipien des Völkerrechts und der Menschlichkeit verpflichtet fühlt, kann dauerhaft in Frieden und Sicherheit existieren und seine Beziehungen zu allen Völkern auf einer Basis von Respekt und Vertrauen aufbauen.

Mittwoch, 28. Mai 2025

Himmelfahrt: Eine Erlösung in der Spannung von Himmel und Erde

Christi Himmelfahrt. Ein Fest, das die Vollendung der Erlösung feiert. Der Himmel steht einen Moment lang offen, blitzartig leuchtet Gottes Herrlichkeit auf – und schon entzieht er sich wieder. In dieser Spannung des kurzen Aufblitzens der Herrlichkeit Gottes und seines gleichzeitigen Sich-Verbergens liegt die Glaubenserfahrung, die von Abraham an durch die Jahrtausende reicht. Immer wieder stellen wir fest, oft schmerzlich: Die Erde hat uns wieder.

Doch worin besteht dann die Erlösung? Angesichts der großen Not, die Teile unserer Erde betrifft und uns auch sehr nahe ist – welcher Art ist diese Erlösung überhaupt? Es ist nur allzu verständlich, wenn uns beispielsweise jüdische Stimmen entgegenhalten: "Was hat euer Messias Jesus gebracht? Liegt der Löwe jetzt beim Lamm? Ihr behauptet, er sei am Ende der Welt bei euch! Aber was bedeutet das für verhungernde Kinder? Für Mütter, die ihre Kinder im Bombenhagel verlieren? Für Menschen, die nach Jahren des Krieges in schwere Depressionen gefallen sind?"

Ein Stück weit müssen wir diese Kritik nicht nur aushalten, wir müssen auch zugeben: Wirklich gute Antworten haben wir darauf keine. Es gibt nur die kontrafaktische, widerspenstige Haltung der Hoffnung, die gegen alle Evidenz glaubt und ausharrt. Woher sonst soll der Friede kommen? Gibt es denn eine Alternative dazu?

Als ich am 8. Mai auf dem Petersplatz stand und die Worte von Papst Leo XIV. hörte, liefen nicht nur mir spontan Tränen über die Wangen. Die Osterhoffnung lautet: „Gott liebt uns, Gott liebt euch alle und das Böse wird nicht siegen! Wir alle sind in den Händen Gottes. Lasst uns daher ohne Angst, Hand in Hand mit Gott und miteinander, weitergehen! Wir sind Jünger Christi. Christus geht uns voran. Die Welt braucht sein Licht. Die Menschheit braucht ihn als Brücke, um von Gott und seiner Liebe erreicht zu werden. Helft auch ihr uns, und helft einander, Brücken zu bauen, durch den Dialog, durch die Begegnung, damit wir alle vereint ein einziges Volk sind, das dauerhaft in Frieden lebt.“

Dieser Gedanke, still persönlich, aber klar, bringt es auf den Punkt. An Himmelfahrt schauen wir nicht nur auf den erhöhten Christus, sondern auch auf die Erde, die er uns hinterlassen hat. Die Erlösung ist keine magische Aufhebung allen Leidens, sondern die Einladung, in dieser Welt Brücken zu bauen, Licht zu sein und Hand in Hand weiterzugehen. Es ist die Hoffnung, die uns befähigt, dem Leid zu begegnen, auch wenn wir keine einfachen Antworten haben. Denn die Liebe Gottes ist die Kraft, die uns antreibt, gegen die Evidenz der Not die Hoffnung auf eine bessere Welt zu leben.

„Orthodoxie im Äußeren – Leerstelle im Innern? Über Ästhetik, Inszenierung und das Ethos Jesu“

Man wird den Eindruck nicht los, dass sich kirchliche Diskurse – vor allem in bestimmten Kreisen – allzu stark um Fragen der liturgischen Ästhetik und äußerlichen Identitätsmerkmale drehen. Es scheint beinahe ein seltsames Paradox: Während die Bindekraft des Christentums in säkularen Gesellschaften kontinuierlich abnimmt, intensiviert sich innerhalb kirchlicher Milieus die Beschäftigung mit symbolischer Inszenierung, mit sichtbarer „Orthodoxie“ – als ginge es darum, über das Äußere das Verlorene zu retten.

So geraten Nebensächlichkeiten ins Zentrum: das Pektorale des Papstes – welche Reliquien es enthält; der Maßschneider seines Gewandes – dessen Lebensstil dann  plötzlich mit Achselzucken registriert wird (ein unvrermuteter Franziskuseffekt posthum?- schön wär's!); die Farbe der Stola, das Tragen der Mozetta, der mögliche Rückgriff auf den alten Ritus, gar die roten Schuhe – deren „Rückkehr“ herbeigeredet wird. Man sucht nach Zeichen, als sprächen sie für sich – als sei katholische Identität eine Frage der Stofflichkeit und Gestik.

Diese Fixierung ist nicht nur historisch kurzsichtig – sie verkennt auch die theologische Struktur des römischen Ritus selbst. Denn dieser ist, entgegen mancher populärer Vorstellungen, kein ästhetisches Überwältigungskonzept, sondern in seiner Ursprungsform von einer bemerkenswerten Nüchternheit, ja Kargheit geprägt. Die opulente Formensprache, die später hinzutrat – insbesondere unter karolingischem und späterem barocken Einfluss – war nie der Kern, sondern Ausdruck eines bestimmten historischen Selbstverständnisses. Dass heute ausgerechnet die traditionsverbundensten Stimmen jene spätenPrägung zum „ursprünglich Katholischen“ verklären, ist Ausdruck einer tiefgreifenden Verwechslung von Überformung und Ursprung.

Hinzu kommt: Ästhetik ist im Katholizismus kein Selbstzweck, sondern Symbolträger. Sie will verweisen – nicht sich selbst feiern. Wo aber das Zeichen wichtiger wird als das Bezeichnete, kippt das Symbol in Ideologie. Das Ornament wird zum Dogma, das Accessoire zum Prüfstein der Rechtgläubigkeit. Der äußere Ritus ersetzt den inneren Vollzug.

Gerade hier aber liegt der Bruch mit dem Ethos Jesu. In einer Zeit, da er bewusst außerhalb institutioneller Machtstrukturen wirkte, predigte er nicht liturgische Präzision, sondern das Reich Gottes in seiner radikalen Andersartigkeit: Barmherzigkeit vor Gesetz, Nähe vor Distanz, Demut vor Repräsentation. Die Unversöhnlichkeit, mit der zuweilen über liturgische Details diskutiert wird, steht damit in scharfem Kontrast zu jenem Geist, den die Evangelien bezeugen.

So bleibt die Frage: Was soll verteidigt werden – die Form oder das Feuer? Was nützt ein äußerlich orthodoxer Kult, wenn er innerlich hohl bleibt?

Wer heute, um der Orthodoxie willen, vor allem den Schein zu wahren sucht, der hat die Herausforderung christlicher Existenz einfach gründlich missverstanden. Denn Christsein ist nicht Formbewahrung, sondern Lebensform – eine, die sich stets am Menschgewordenen orientieren muss, nicht am Gewebe seiner Nachfolger.

„Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein“ – Zweite Generalaudienz Leos XIV am 28. Mai 2025

In seiner heutigen Ansprache formuliert Papst Leo eine Einsicht, die wie ein Brennglas auf die gegenwärtige theologische Diskussion wirkt – und zugleich in ihrer Einfachheit und Klarheit prophetisch ist. Die Aussage „Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein“ stellt nicht nur eine pastorale Mahnung dar, sondern berührt das Herz christlicher Anthropologie.

Papst Leo formuliert:

„Das Leben aber besteht aus Begegnungen, und in diesen Begegnungen zeigt sich, wer wir wirklich sind. […] Mitgefühl ist nämlich nicht in erster Linie eine religiöse, sondern eine menschliche Angelegenheit! Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein.“

Die christliche Anthropologie beginnt nicht mit der Sünde des Menschen, sondern mit seiner Würde. Im Anfang steht nicht der „Fall“, sondern die Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27). Der Mensch ist – vor aller Leistung, vor aller Moral, vor jeder religiösen Identifikation – ein von Gott gewolltes, geliebtes, zum Dialog befähigtes Wesen. Diese vorgängige Würde ist nicht nur ein theologisches Postulat, sondern die anthropologische Mitte der christlichen Offenbarung.

Die Aussage Papst Leos erinnert daran, dass das Christsein keine Überformung des Menschseins ist, sondern dessen radikale Vertiefung. Jesus Christus offenbart nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht nur Gott, sondern auch den Menschen „dem Menschen selbst“ (vgl. Gaudium et Spes 22). Die Menschlichkeit Jesu ist nicht bloß Medium der göttlichen Botschaft – sie ist ihre Substanz. In Ihm ist das Menschsein in seiner Fülle sichtbar geworden, durchdrungen von göttlicher Liebe, berührbar, verletzlich, solidarisch bis zum Kreuz.

Wenn Papst Leo vom Mitgefühl als menschlicher Angelegenheit spricht, dann verschiebt er nicht etwa den Glauben an den Rand – er macht ihn durchlässig für seine Quelle. Christlicher Glaube ist nie bloß Zustimmung zu Dogmen oder Teilnahme am Kult; er ist Antwort auf eine vorhergehende Erfahrung von Gesehen-, Geliebt- und Gerufen-Sein. Diese Erfahrung ist zutiefst menschlich. Sie geschieht im Blick des Anderen, in der Berührung durch die Not des Nächsten, in der Begegnung, die nicht ausweicht, sondern stehenbleibt.

In diesem Sinn ist die vielzitierte „Option für die Armen“ nicht nur sozialpolitisch zu deuten, sondern ontologisch: Der leidende Mensch ist theologisch privilegierter Ort, ein lebendiges Sakrament der göttlichen Gegenwart. Wer sich von ihm rühren lässt, tritt in die Wirklichkeit Gottes ein – jenseits kultischer Absicherung oder moralischer Selbstgewissheit.

Was bedeutet das für die Kirche? Wenn wir ernst nehmen, dass der Mensch – nicht die Institution – der erste Ort der Gottesoffenbarung ist, dann ergibt sich eine Priorität in der pastoralen wie strukturellen Ausrichtung: Die Kirche ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um der Kirche willen. Kult und Dogma, Liturgie und Lehre finden ihre Wahrheit und ihre Glaubwürdigkeit nur dort, wo sie das Menschsein in seiner Tiefe, seiner Fragilität und seinem Hoffen ernst nehmen.

Papst Leos Mahnung, den oft „allzu eng gefassten heiligen Raum“ zu verlassen, ist ein Ruf zur Rückkehr zu dieser existenziellen Anthropologie. Der „heilige Raum“ des Tempels, von dem er spricht, wird zum Bild für jede kirchliche Selbstbezogenheit, die den Menschen nicht mehr erreicht – oder ihn gar aus den Augen verloren hat. Wenn religiöse Praxis nicht zur Barmherzigkeit führt, dann verfehlt sie ihr Ziel.

Es ist eine tiefe Wahrheit, die in dieser Ansprache zur Sprache kommt: Nicht der Glaube macht uns menschlich – sondern das Menschsein öffnet uns für den Glauben. Das Evangelium Jesu Christi ist kein Rückzugsangebot aus der Wirklichkeit, sondern eine Bevollmächtigung zur Teilnahme an ihr – mit einem Blick, der tiefer sieht: Alles und alle sind aufgehoben in der Liebe Gottes.

In einer Welt, die oft polarisiert, trennt, ausgrenzt, ist es ein revolutionärer Akt, das Menschsein selbst als das Heilige zu erkennen. Nicht als etwas Vollkommenes, sondern als das Zerbrechliche, das Würde trägt. Die Nachfolge Christi beginnt dort, wo wir uns berühren lassen. Dort, wo wir – menschlich sein dürfen, menschlich sein sollen – und dadurch Gott näher kommen als je zuvor. 

Text der Ansprache

Epiphanie der Projektionsfläche: Zur paradoxen Einheitswahrnehmung im Pontifikat Papst Leos

 

Die Wahl des bislang wenig bekannten Robert Francis Prevost zum Papst – nun Papst Leo – hat ein bemerkenswertes Phänomen ausgelöst: Innerhalb der römisch-katholischen Kirche bekunden unterschiedlichste theologische Strömungen überraschend breite Zustimmung. Gruppen, die sich in vielen Grundfragen unversöhnlich gegenüberstehen, scheinen in ihm einen impliziten Fürsprecher ihrer Anliegen zu erkennen. Diese transversale Identifikation bedarf einer näheren  Betrachtung.

Psychologisch gesprochen handelt es sich wohl um ein klassisches Phänomen projektiver Identifikation: Die noch unklare öffentliche Gestalt des neuen Papstes eröffnet Raum für Wunschbesetzungen, die mehr über die Sehnsüchte der Beobachtenden als über den Beobachteten selbst aussagen. In Momenten kollektiver Verunsicherung – wie sie derzeit innerkirchlich deutlich spürbar sind – gewinnt die Suche nach symbolischer Autorität an Bedeutung. Papst Leo erscheint hier als "Leinwand", auf die unterschiedliche Gruppen ihr je eigenes Bedürfnis nach Orientierung, Rückbindung oder Erneuerung projizieren.

Ein konkretes Beispiel bietet die Reaktion traditionell orientierter Kreise, insbesondere der Anhänger der sogenannten „Alten Messe“. Auf Grundlage einer päpstlichen Ansprache an die katholischen Ostkirchen wurde ein Argumentationsnarrativ entwickelt, das suggeriert, Leo wolle das Messbuch von 1962 rehabilitieren. Die daraus abgeleiteten Erwartungen sind jedoch sachlich einseitig und überdehnen den Kontext. Tatsächlich sind sie losgelöst vom den ekklesiologischen und liturgischen Maßtäben, die in der ganzen Kirche, auch in den Kirchen sui iurris , den Katholischen Ostkirchen gelten. Die Rücknahme von Summorum Pontificum durch Traditionis Custodes hatte gute Gründe: Das von Benedikt XVI. initiierte Projekt war in vieler Hinsicht – ekklesiologisch, liturgisch und in seiner praktischen Umsetzung – nicht zu Ende gedacht. Etwa die unglückliche Neuformulierung der Karfreitagsfürbitten im alten Ritus führte zu erheblichen Spannungen im jüdisch-christlichen Dialog. Bis heute sind sie Gegenstand berechtigter Vorbehalte jüdischerseits, wie ernst es der katholischen Kirche mit ihrer Anerkennung Israels ist.

Philosophisch betrachtet lässt sich das Phänomen mit Ricoeurs Theorie der narrativen Identität vertiefen. Die Gestalt Papst Leos wird derzeit weniger als historisch-konkrete Persönlichkeit denn als Projektionsfigur zukünftiger Möglichkeiten erzählt. Diese erzählerische Konstitution verleiht ihm Bedeutung – jedoch nicht im Modus der Beschreibung, sondern der Imagination. Die Einheit, die viele empfinden, ist daher eher symbolischer Natur: eine fragile Formation gemeinsamer Hoffnung im Modus des Noch-nicht.

Wünschenswert wäre es aus meiner Sicht, dem neuen Papst mit einem weiten Vertrauensvorschuss zu begegnen – nicht, indem man ihn in vorgefertigte Denkmuster presst, sondern gerade durch das Zurückstellen eigener Erwartungen. Eine solche Haltung würde nicht nur seinem Amt gerechter, sondern könnte auch das Klima innerkirchlicher Verständigung stärken. Papst Leo verdient die Chance, aus seinem je eigenen geistlichen und menschlichen Profil heraus zu wirken – nicht als bloßer Erfüllungsgehilfe vorgezeichneter Agenden, sondern als geistlich ausgerichtete Führungsfigur in einer Zeit der Übergänge.

Der Mai im Zeitraffer: Ein Wechselbad der Gefühle

Der Mai ist wie im Flug vergangen, und er war turbulent, ein wahres Wechselbad von Gefühlen. Zu Beginn war da noch die Trauer um Papst Franz...