Mittwoch, 28. Mai 2025

„Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein“ – Zweite Generalaudienz Leos XIV am 28. Mai 2025

In seiner heutigen Ansprache formuliert Papst Leo eine Einsicht, die wie ein Brennglas auf die gegenwärtige theologische Diskussion wirkt – und zugleich in ihrer Einfachheit und Klarheit prophetisch ist. Die Aussage „Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein“ stellt nicht nur eine pastorale Mahnung dar, sondern berührt das Herz christlicher Anthropologie.

Papst Leo formuliert:

„Das Leben aber besteht aus Begegnungen, und in diesen Begegnungen zeigt sich, wer wir wirklich sind. […] Mitgefühl ist nämlich nicht in erster Linie eine religiöse, sondern eine menschliche Angelegenheit! Bevor wir Gläubige sind, sind wir gerufen, menschlich zu sein.“

Die christliche Anthropologie beginnt nicht mit der Sünde des Menschen, sondern mit seiner Würde. Im Anfang steht nicht der „Fall“, sondern die Gottebenbildlichkeit (Gen 1,27). Der Mensch ist – vor aller Leistung, vor aller Moral, vor jeder religiösen Identifikation – ein von Gott gewolltes, geliebtes, zum Dialog befähigtes Wesen. Diese vorgängige Würde ist nicht nur ein theologisches Postulat, sondern die anthropologische Mitte der christlichen Offenbarung.

Die Aussage Papst Leos erinnert daran, dass das Christsein keine Überformung des Menschseins ist, sondern dessen radikale Vertiefung. Jesus Christus offenbart nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht nur Gott, sondern auch den Menschen „dem Menschen selbst“ (vgl. Gaudium et Spes 22). Die Menschlichkeit Jesu ist nicht bloß Medium der göttlichen Botschaft – sie ist ihre Substanz. In Ihm ist das Menschsein in seiner Fülle sichtbar geworden, durchdrungen von göttlicher Liebe, berührbar, verletzlich, solidarisch bis zum Kreuz.

Wenn Papst Leo vom Mitgefühl als menschlicher Angelegenheit spricht, dann verschiebt er nicht etwa den Glauben an den Rand – er macht ihn durchlässig für seine Quelle. Christlicher Glaube ist nie bloß Zustimmung zu Dogmen oder Teilnahme am Kult; er ist Antwort auf eine vorhergehende Erfahrung von Gesehen-, Geliebt- und Gerufen-Sein. Diese Erfahrung ist zutiefst menschlich. Sie geschieht im Blick des Anderen, in der Berührung durch die Not des Nächsten, in der Begegnung, die nicht ausweicht, sondern stehenbleibt.

In diesem Sinn ist die vielzitierte „Option für die Armen“ nicht nur sozialpolitisch zu deuten, sondern ontologisch: Der leidende Mensch ist theologisch privilegierter Ort, ein lebendiges Sakrament der göttlichen Gegenwart. Wer sich von ihm rühren lässt, tritt in die Wirklichkeit Gottes ein – jenseits kultischer Absicherung oder moralischer Selbstgewissheit.

Was bedeutet das für die Kirche? Wenn wir ernst nehmen, dass der Mensch – nicht die Institution – der erste Ort der Gottesoffenbarung ist, dann ergibt sich eine Priorität in der pastoralen wie strukturellen Ausrichtung: Die Kirche ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um der Kirche willen. Kult und Dogma, Liturgie und Lehre finden ihre Wahrheit und ihre Glaubwürdigkeit nur dort, wo sie das Menschsein in seiner Tiefe, seiner Fragilität und seinem Hoffen ernst nehmen.

Papst Leos Mahnung, den oft „allzu eng gefassten heiligen Raum“ zu verlassen, ist ein Ruf zur Rückkehr zu dieser existenziellen Anthropologie. Der „heilige Raum“ des Tempels, von dem er spricht, wird zum Bild für jede kirchliche Selbstbezogenheit, die den Menschen nicht mehr erreicht – oder ihn gar aus den Augen verloren hat. Wenn religiöse Praxis nicht zur Barmherzigkeit führt, dann verfehlt sie ihr Ziel.

Es ist eine tiefe Wahrheit, die in dieser Ansprache zur Sprache kommt: Nicht der Glaube macht uns menschlich – sondern das Menschsein öffnet uns für den Glauben. Das Evangelium Jesu Christi ist kein Rückzugsangebot aus der Wirklichkeit, sondern eine Bevollmächtigung zur Teilnahme an ihr – mit einem Blick, der tiefer sieht: Alles und alle sind aufgehoben in der Liebe Gottes.

In einer Welt, die oft polarisiert, trennt, ausgrenzt, ist es ein revolutionärer Akt, das Menschsein selbst als das Heilige zu erkennen. Nicht als etwas Vollkommenes, sondern als das Zerbrechliche, das Würde trägt. Die Nachfolge Christi beginnt dort, wo wir uns berühren lassen. Dort, wo wir – menschlich sein dürfen, menschlich sein sollen – und dadurch Gott näher kommen als je zuvor. 

Text der Ansprache

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