Mittwoch, 28. Mai 2025

Epiphanie der Projektionsfläche: Zur paradoxen Einheitswahrnehmung im Pontifikat Papst Leos

 

Die Wahl des bislang wenig bekannten Robert Francis Prevost zum Papst – nun Papst Leo – hat ein bemerkenswertes Phänomen ausgelöst: Innerhalb der römisch-katholischen Kirche bekunden unterschiedlichste theologische Strömungen überraschend breite Zustimmung. Gruppen, die sich in vielen Grundfragen unversöhnlich gegenüberstehen, scheinen in ihm einen impliziten Fürsprecher ihrer Anliegen zu erkennen. Diese transversale Identifikation bedarf einer näheren  Betrachtung.

Psychologisch gesprochen handelt es sich wohl um ein klassisches Phänomen projektiver Identifikation: Die noch unklare öffentliche Gestalt des neuen Papstes eröffnet Raum für Wunschbesetzungen, die mehr über die Sehnsüchte der Beobachtenden als über den Beobachteten selbst aussagen. In Momenten kollektiver Verunsicherung – wie sie derzeit innerkirchlich deutlich spürbar sind – gewinnt die Suche nach symbolischer Autorität an Bedeutung. Papst Leo erscheint hier als "Leinwand", auf die unterschiedliche Gruppen ihr je eigenes Bedürfnis nach Orientierung, Rückbindung oder Erneuerung projizieren.

Ein konkretes Beispiel bietet die Reaktion traditionell orientierter Kreise, insbesondere der Anhänger der sogenannten „Alten Messe“. Auf Grundlage einer päpstlichen Ansprache an die katholischen Ostkirchen wurde ein Argumentationsnarrativ entwickelt, das suggeriert, Leo wolle das Messbuch von 1962 rehabilitieren. Die daraus abgeleiteten Erwartungen sind jedoch sachlich einseitig und überdehnen den Kontext. Tatsächlich sind sie losgelöst vom den ekklesiologischen und liturgischen Maßtäben, die in der ganzen Kirche, auch in den Kirchen sui iurris , den Katholischen Ostkirchen gelten. Die Rücknahme von Summorum Pontificum durch Traditionis Custodes hatte gute Gründe: Das von Benedikt XVI. initiierte Projekt war in vieler Hinsicht – ekklesiologisch, liturgisch und in seiner praktischen Umsetzung – nicht zu Ende gedacht. Etwa die unglückliche Neuformulierung der Karfreitagsfürbitten im alten Ritus führte zu erheblichen Spannungen im jüdisch-christlichen Dialog. Bis heute sind sie Gegenstand berechtigter Vorbehalte jüdischerseits, wie ernst es der katholischen Kirche mit ihrer Anerkennung Israels ist.

Philosophisch betrachtet lässt sich das Phänomen mit Ricoeurs Theorie der narrativen Identität vertiefen. Die Gestalt Papst Leos wird derzeit weniger als historisch-konkrete Persönlichkeit denn als Projektionsfigur zukünftiger Möglichkeiten erzählt. Diese erzählerische Konstitution verleiht ihm Bedeutung – jedoch nicht im Modus der Beschreibung, sondern der Imagination. Die Einheit, die viele empfinden, ist daher eher symbolischer Natur: eine fragile Formation gemeinsamer Hoffnung im Modus des Noch-nicht.

Wünschenswert wäre es aus meiner Sicht, dem neuen Papst mit einem weiten Vertrauensvorschuss zu begegnen – nicht, indem man ihn in vorgefertigte Denkmuster presst, sondern gerade durch das Zurückstellen eigener Erwartungen. Eine solche Haltung würde nicht nur seinem Amt gerechter, sondern könnte auch das Klima innerkirchlicher Verständigung stärken. Papst Leo verdient die Chance, aus seinem je eigenen geistlichen und menschlichen Profil heraus zu wirken – nicht als bloßer Erfüllungsgehilfe vorgezeichneter Agenden, sondern als geistlich ausgerichtete Führungsfigur in einer Zeit der Übergänge.

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